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Graf Rasso
Unterschiedliche Namensformen
Für den Mann, der in der Kirche zu Grafrath sein bekanntes Grab hat, sind mehrere ähnlich klingende Namen überliefert: Rath, Ratt, Grafrath (mit Betonung auf der ersten Silbe), Ratho, Ratzko, Raze, Razo, Razzo, Rasso. Der früher beim Volk allgemein gebräuchliche Name war sand Gráfrath (später auch getrennt geschrieben Graf Rath). Deshalb bürgerte sich schon im Mittelalter neben dem eigentlichen Ortsnamen Wörth der Name sand Grafrath für den Ort ein. Offiziell wurde die Ortsbezeichnung Grafrath anstelle von Wörth erst bei der Gemeindebildung 1818 festgelegt. Als Weiler kam der Ort damals zunächst zur Gemeinde Schöngeising, ab 1848 zu Unteralting. Beim Zusammenschluss der Dörfer Unteralting und Wildenroth im Jahre 1972 übernahm die neue Gemeinde von diesem Weiler den Namen Grafrath.
Die unterschiedlichen Namensformen mit einem s-Laut in der Mitte statt des t-Lautes erklären sich von daher, dass ein Dießener Chronist des 13. Jahrhunderts den Gründer von Grafrath mit dem ersten Grafen Razo von Diezen gleich setzte. Dieser ist allerdings urkundlich erst um 1050 und da ohne Zusammenhang mit dem Ort Grafrath bezeugt. In Berichten und Lebensbeschreibungen über den Gründer von Grafrath ab dem 16. Jahrhundert ist in der Regel auf die verschiedenen Benennungen Ratho, Rasso und Grafrath verwiesen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich beim Volk für den Heiligen allgemein der Name Rasso durch.
Quellenlage
Trotz der Namensunsicherheit gibt es eine absolut sichere nichtschriftliche Quelle, nämlich das frühmittelalterliche Steinplattengrab im Boden der Kirche und die Gebeine des Mannes, die 1468 daraus entnommen wurden und heute in einem Glasschrein auf dem Hochaltar ruhen. Die schriftliche Überlieferung setzt erst später ein, da das von Graf Rath gegründete Kloster Anfang des 12. Jahrhunderts nach Dießen verlegt und die vom Kirchenstifter für seine Kirche gesammelten Reliquien nach Andechs gebracht wurden. Das erste schriftliche Dokument ist die Papstbulle von 1132, in der bereits das Ende des Klosters in Grafrath festgestellt wird. Papst Innozenz II. unterstellt die übrig gebliebene Kirche in Grafrath dem Kloster in Dießen und überträgt alle Rechte und Würden, die die Kirche in Grafrath bis dahin besaß, auf die Kirche in Dießen. Dem Kloster in Dießen lag verständlicherweise nichts daran, Urkunden über das Vorgängerkloster in Grafrath aufzubewahren, zumal das Kloster wahrscheinlich aus innerkirchlichen Gründen (Investiturstreit) aufgelöst wurde. Anders als in Dießen wurde in Andechs das Andenken an den Grafen Rath wach gehalten, da die Grafen ihn als ihren Ahnherrn ansahen. Doch das Grafengeschlecht der Andechser ging selber gut hundert Jahre später unter, der Stammsitz in Andechs wurde zerstört und die Grafschaft von den Wittelsbachern in Besitz genommen. Auch ihnen lag nichts daran, nunmehr bedeutungslos gewordene Urkunden des ehemals rivalisierenden Grafengeschlechts zu erhalten.
Die Situation änderte sich, als 1388 in Andechs die vergrabenen Reliquien aus der Grafenzeit wieder aufgefunden wurden und darunter auch Reliquien waren, bei denen die Herkunft von Graf Rath angegeben war. Jetzt entstand das Bedürfnis, Näheres über den in Grafrath bestatteten Mann in Erfahrung zu bringen. Da das Ergebnis lückenhaft war, versuchten Chronisten und frühe Geschichtsschreiber die Lücken durch Kombinieren zu füllen. Eine besondere Rolle spielte dabei der frühe bayerische Geschichtsschreiber Aventin. Beeindruckt von dem ungewöhnlichen Grab, das er am 3. August 1518 in Grafrath besichtigte, versuchte er, den Grafen Rath (so nennt er ihn in der deutsch verfassten Bairischen Chronik) bzw. Ratho (so in den lateinischen Annales), ausgehend von einer angenommenen Lebenszeit in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, genealogisch und politisch in die bekannte Geschichte dieser Zeit einzuordnen. Auf dieser unsicheren Grundlage entstanden ab dem 16. Jahrhundert Lebensbeschreibungen, die bis heute das Bild des Heiligen in der Ikonographie (z.B. auf den Deckengemälden der Kirche in Grafrath) und in der Vorstellung der Menschen prägten.
Gesicherte Lebensdaten
Aus dem Vorhandensein des Grabes in der Mitte der Kirche, aus dem Grabtyp und aus der Beschaffenheit der Schädelreliquie - nur diese wurde bisher untersucht - sowie aus den frühen Andechser Überlieferungen kann man Folgendes als sicher annehmen: Bei dem in Grafrath begrabenen Mann handelte es sich um eine herausragende Persönlichkeit des frühen Mittelalters im Rang eines „comes". Der Titel „comes (Graf)" war in der frühen Zeit kein bloßer Adelstitel, sondern ein Amtstitel. Nach der Entmachtung des Bayernherzogs Tassilo III. 788 hatte Karl der Große Bayern in Verwaltungsbezirke (comitatus) eingeteilt und die Verwaltung der Bezirke „Grafen" übertragen. Graf Rath/Rasso war nach glaubhafter Andechser Überlieferung ein aus Frankreich stammender Adeliger, der vom Frankenkönig im Ammersee-Amper-Gebiet, dem Kernland der späteren Grafschaft Andechs, als Graf eingesetzt war. Als solcher gründete auf der Insel Wörth, später nach ihm St. Grafrath benannt, ein Kloster, erbaute eine Kirche, sammelte für die Kirche im Heiligen Land und in Rom Reliquien, ließ sich in der Kirche nahe bei den Heiligenreliquien ein Grab aus Tuffsteinplatten anlegen und wurde nach seinem Tod darin bestattet.
Unsicherheit herrscht bei den Dingen, die aus dem Vorhandensein eines Grabes und aus Gebeinen nicht ableitbar sind, wohl aber in der Regel auf der Grabplatte angegeben waren, nämlich der Name und das Todesdatum des bestatteten Mannes. Offensichtlich war aber zu der Zeit, als Chronisten von Dießen und Andechs Geneueres über den Gründer des niedergegangenen Klosters schriftlich festhalten wollten, die Inschrift auf dem Grab, wie wir das aus vielen am Boden liegenden Grabplatten in Kirchen kennen, kaum mehr lesbar, so dass es zu verschiedenen Lesarten kam. Auch als Propst Johannes von Dießen nach der Erhebung der Gebeine 1468 auf die neu angefertigte Grabplatte den Namen Rasso setzen ließ, waren sich die Chorherren, wie die Dießener Schriften aus jener Zeit zeigen, über diese Festlegung des Namens keineswegs einig. Die meisten verwendeten weiter den Namen Graf Rath, so auch der Schreiber des ersten Mirakelbuchs von Grafrath, der 1499 in der Einleitung den in dem erhebten Grab in der Kirche ruhenden Mann als sand grafratt bezeichnet. Nicht viel anders verhielt es sich mit dem Todesjahr des Mannes, das als erster der Chronist Albert von Dießen gut fünfhundert (!) Jahre später mit 954 angab. Auch darin folgten ihm nicht alle Chronisten. Die älteren Andechser Überlieferungen gehen jedenfalls von einer Gründung im 9. Jahrhundert aus. Möglicherweise las Albert von Dießen auf der Deckplatte als Todesjahr DCCCCLIV, während in Wirklichkeit dort ursprünglich DCCCLIV geschrieben stand. Mit diesem Jahr 854 kämen wir in die Karolingerzeit, in der eine Klostergründung und derartige Bestattung eher denkbar sind als in der von Aufständen und Kriegen geprägten ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts.
Nicht belegbare Angaben in verschiedenen Lebensbeschreibungen
Nicht belegbar oder historisch überhaupt nicht haltbar sind biographische Details, die auf Kombinationen des bayerischen Geschichtsschreibers Aventin und verschiedener Klosterchronisten ab dem 16. Jahrhundert zurückgehen. Dazu gehört, Graf Ratho/Rasso sei der Sohn des Grafen Ratold gewesen, der Stammvater des Geschlechts der Grafen von Dießen und Andechs gewesen sei. Graf Ratho habe unter Herzog Heinrich, der von König Otto I. 947 als Herzog in Bayern einsetzt worden war, gegen die Ungarn gekämpft und 948 bei Mauerkirchen zwei glorreiche Siege errungen. Dies schloss Aventin aus zwei heute nicht mehr vorhandenen Reiterstatuen in Mauerkirchen, die er willkürlich als Herzog Heinrich und Graf Ratho deutete. Auch die Annahme, Rasso habe seine Pilgerfahrt ins Heilige Land mit Herzogin Judith unternommen, ist eine freie Kombination Aventins. Schließlich sind auch die späteren Erklärungen für das Ende des Klosters in Grafrath nicht haltbar. Da die Klosterchronisten dafür lieber äußere als innere Ursachen annehmen wollten, machten sie zunächst den Bayernherzog Arnulf den „Bösen" (+ 937) verantwortlich, Aventin hingegen die Ungarn, ehe sie 955 auf dem Lechfeld besiegt wurden. Für beides gibt es nicht nur keine Belege, vielmehr kann auch die behauptete Flucht der Mönche mit den Reliquien nach Andechs zu dieser Zeit gar nicht stattgefunden haben, da Andechs erst später in die Geschichte eintritt.
Bedeutung des Grafen
Aus den nichtschriftlichen und schriftlichen Quellen wird deutlich, dass Graf Rath/Rasso eine ungewöhnliche Erscheinung gewesen sein muss, nicht nur auf Grund seiner bemerkenswerten Körpergröße von fast zwei Metern, wie sie aus dem Grab und den Reliquien erschlossen werden kann, sondern auch auf Grund des Eindrucks, den Persönlichkeit bei den Zeitgenossen hinterließ. Er gehört zu den wenigen Gestalten des frühen Mittelalters, deren Grab all die Jahrhunderte beim Volk in lebendiger Erinnerung blieb, obwohl es nach der Verlegung des Klosters einsam gelegen war. Viele Menschen glaubten, dass der Bestattete aus dem Grab noch weiter wirkt und den Menschen in den verschiedensten Notlagen hilft, wie die rund 13 000 Einträge in den erhaltenen Mirakelbüchern von 1444 bis 1728 zeigen. Vergleichbar ist der Fall Grafrath mit dem bekannten Ort in Spanien, der nach dem vermeintlichen Grab des hl. Apostels Jakobus in „Sant Jago di Compostela" umbenannt wurde; denn schon 1393 bestätigt eine Urkunde, dass der Ort Wörth nach dem Grab des als heilig verehrten Grafen in „sand grafrath im werd" umbenannt war. Als Grund für die Verehrung gibt die älteste Chronik von Andechs an: adelige Abstammung und Besitz von Machtbefugnissen, aber gerechte Amtsführung, Verdienste um die Ausbreitung und Festigung des Christentums durch Klostergründung und Kirchenstiftung, schließlich Verzicht auf Macht und Besitz und Rückzug ins Kloster. Insofern entspricht Graf Rath/Rasso dem bekannten Typus des frühmittelalterlichen Adelsheiligen.
(Ernst Meßmer)
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